Die brennende Kathedrale von Reims
Während des Ersten Weltkrieges wurde die Kathedrale von Reims durch deutsches Artilleriefeuer schwer beschädigt, unter anderem wurde der hölzerne Dachstuhl aus dem 15. Jahrhundert komplett zerstört. Am 19. September 1914 schlugen insgesamt 25 Geschosse in das Bauwerk ein und setzten zunächst das Gerüst am Nordturm in Brand. Bei seinem Einsturz beschädigte es den Skulpturenschmuck der Fassade. Das Feuer griff auf den Dachstuhl über, der völlig ausbrannte. Das Bleidach schmolz, auch ein großer Teil der mittelalterlichen Glasfenster wurde zerstört.
Um den Beschuß der Kathedrale entbrannte umgehend eine erbitterte Propagandaschlacht zwischen den Intellektuellen Frankreichs und Deutschlands. Noch nie zuvor hatte der Angriff auf ein Baudenkmal einen derartigen Sturm an Empörung in Texten und Bildern ausgelöst. Die Franzosen unterstellten den Deutschen die volle Absicht der Zerstörung, die Deutschen rechtfertigten sich mit einem "Versehen". Das wurde natürlich nicht geglaubt und Postkarten mit der zerstörten Kathedrale wurde zu einem vielfach gedruckten Symbol des deutschen Vandalentums.1
Der im Oktober in vielen deutschen Zeitungen abgedruckte Aufruf An die Kulturwelt!, unterzeichnet von 93 namhaften Wissenschaftlern und Künstlern, von Max Planck bis Max Liebermann, machte nichts besser. Ganz im Gegenteil. Aber so wenig wir uns in der Liebe zur Kunst von irgend jemand übertreffen lassen, so entscheiden lehnen wir es ab, die Erhaltung eines Kunstwerks mit einer deutschen Niederlage zu erkaufen. Das war nur noch Öl in die französischen Feuer und die geistige Niederlage war nicht mehr abzuwenden. Das Manifest der 93 vergiftete die intellektuellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern endgültig.
Mitten in dieser aufgeheizten Stimmung unterschrieb Ferdinand Hodler einen Protestbrief gegen den Beschuß. Daraufhin wurde er in Deutschland aus fast allen Künstlervereinigungen ausgeschlossen. Um das Gemälde Auszug der deutschen Studenten in den Freiheitskrieg 1813 entspann sich daraufhin einer der größten Kunstskandale des Kaiserreichs — seither unverlierbar als der Fall Hodler im Schwarzbuch der europäischen Kulturgeschichte eingeschrieben.
1907 hatte die Universität in Jena den seinerzeit bekannten Schweizer Maler Ferdinand Hodler mit dem monumentalen Gemälde aus der Geschichte der deutschen Befreiungskriege gegen Napoleon beauftragt. Hodler gestaltete das Thema in äußerster Heroik. Die emotionale Art der Darstellung lieferte dem deutschen Publikum den Beweis, daß der in der deutschen Schweiz gebürtige Hodler in der sich anbahnenden Auseinandersetzung mit Frankreich auf der richtigen d.h. deutschen Seite stand.
Der von Hodler unterschriebene Protestbrief brandmarkte die Beschießung der Kathedrale öffentlich als Kulturbarbarei. Das wurde ihm umgehend als Verrat an der deutschen Sache ausgelegt. Plötzlich galt Hodler als Deutschfeind und es wurde von vielen Seiten kritisiert, daß man überhaupt ein solch erhebendes nationales Ereignis von einem Schweizer hatte malen lassen. Der es schon qua Nationalität (so die Auffassung unter den Gelehrten) weder recht zu empfinden noch auszudrücken wisse. Man glaubt nun, schon in der Farbgebung, in der verkrümmten, verrenkten Haltung der Soldaten etwas Undeutsches erkennen zu können.
Kurz nach Ausbruch der Affäre erschien im Jenaer Volksblatt ein von Ernst Haeckel, dem berühmten Jenaer Zoologen, verfaßter und an Hodler adressierter offener Brief, der in vielen deutschen Zeitungsblättern nachgedruckt wurde. Darin wurde gefordert, das Bild meistbietend zu versteigern und den Erlös dem Roten Kreuz zu spenden. Es fanden sich tatsächlich Interessenten, die bis zu 50.000 Mark zu zahlen bereit waren.
Aber dem Senat der Universität war das alles schon zu viel Aufsehen. Um weiteren Wirbel zu vermeiden entschied er gegen einen Verkauf. Der Senat fürchtete, wegen der Bekanntheit Hodlers, die Stadt aber auch die Deutschen insgesamt in noch schlechteres Licht zu rücken. Er argumentierte, das Bild könne als Privatbesitz der Universität nicht versteigert werden und beschloß, es vorerst in Schutzhaft zu nehmen, d.h. es mit einem Bretterverschlag zu verdecken. An diesem Bretterverschlag brachte in der Folge der Leiter des geographischen Instituts, Professor Gustav von Zahn, Kriegsschauplatz und Verlaufskarten und Feldpostbriefe unserer Kommilitonen an und hielt davor seine Vorlesungen.
Auch in anderen Museen und Galerien wurden Bilder Hodlers ab- bzw. verhangen.
Hodler nahm noch 1914 in einem Telegramm an Walter Eucken (der bei dem Bild Modell gestanden hatte) zu seiner Unterschrift und dem Protestbrief Stellung. Er rechtfertigte sich, er habe nicht gegen Deutschland, sondern gegen die Zerstörung von Kunstwerken protestieren wollen. Sein Protest sei daher nicht politisch, sondern kulturell motiviert. Es nutzte ihm nichts. Auch Eucken vertrat mittlerweile die Ansicht, daß das Gemälde entfernt gehöre. Allerdings war sich Hodler auch darüber klar, daß er Künstler politisch agierte. Das äußerte er 1915 gegenüber seinem Freund Eberhard Grisebacht: denn wer Kunstwerke zerstöre, der trenne auch die Völker. Grisebach entgegnete, daß Deutschland nur noch Verbündete und Feinde kennen würde und daß alle kriegführenden Parteien durch eine Art Kriegsneurose sämtliche Maßstäbe verloren hätten.
Im April 1919 entfernten Angehörige der freideutschen Jugend eigenmächtig die Bretterverkleidung vor dem Bild. Die Universitätsleitung sperrte die Öffentlichkeit zuerst noch durch eine Gittertür aus, gab es aber dennoch unmittelbar darauf wieder frei.
1 Mittlerweile, mehr als 100 Jahre später, steht übrigens ziemlich fest, daß der Beschuß der Kathedrale tatsächlich auf Grund eines Irrtums erfolgte. Der verantwortliche deutsche Kommandeur hatte die gewaltigen Holzgerüste für militärische Beobachtungstürme gehalten und nicht erkannt, daß er tatsächlich die Kathedrale beschoß. Thomas W. Gaehtgens: Die brennende Kathedrale. 2018
Dieser Text ist ein Auszug aus meinem Artikel »Die bekannteste Wiese der Welt«.
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